Nebel
II. Nebel
In Gedanken versunken schloss ich meinen Griff noch fester um das Geländer und beobachtete die Menschen, die im Hochhaus auf der anderen Seite der Straße arbeiteten. Was mochte ihnen wohl in diesem Moment durch den Kopf gehen? Waren sie vertieft in ihre Arbeit, darauf aus, ihre Aufgaben so vorbildlich wie möglich auszuführen? Oder freuten sie sich vielmehr auf ihren Feierabend, darauf hoffend, der Tag möge so schnell wie möglich vorüber gehen? Egal was es auch war, sie alle sahen so aus, als könnten sie trotz der ganzen Arbeit ein erfülltes Dasein führen.
So, als würde der immer weiter aufsteigende Nebel sie nicht irgendwann umhüllen. So, als hätten sie überhaupt keinen Drang dazu, die Sonne zu sehen.
Es war ruhig um mich herum geworden. Ich fühlte mich ungewohnt entspannt, denn die Wut, die ich eben noch empfunden hatte, wurde überdeckt von einem Gefühl der Ruhe. Tatsächlich empfand ich gar nichts mehr, keine Neugierde den arbeitenden Menschen gegenüber und auch keine Enttäuschung, weil ich die Sonne wieder nicht zu Gesicht bekommen hatte. Alles schien von der Nebelwand verschlungen worden zu sein. Es war, als würde sie nicht nur meinen Blick, sondern auch meine Emotionen und Gedanken blockieren - eine graue Masse, die sich von nichts durchdringen lies.
Ich mochte dieses Gefühl nicht. Völlig abgeschottet zu sein vom Rest der Welt, abgestumpft gegenüber allem, was so um einen herum passiert war das genaue Gegenteil von dem was ich wollte. Ich hatte einen Traum und würde mir die Hoffnung darauf nicht von irgendeiner Dunstwolke, egal ob natürlich entstanden oder von Menschenhand erschaffen, zerstören lassen. Dennoch stieg langsam Unsicherheit in mir auf. Denn je weniger ich wahrnahm, in desto weitere Ferne rückte meine Aussicht darauf, meinen Wunsch irgendwann doch noch erfüllen zu können.
Ich löste meinen Griff vom Geländer und versuchte mich zu orientieren. Vor mir, das wusste ich, war der Abgrund, von dem inzwischen allerdings nichts mehr zu sehen war. Vorsichtig ging ich ein paar Schritte zurück und sah mich um, doch wohin ich auch blickte, konnte ich nichts ausmachen. Nicht einmal vage Konturen des Geländers oder der Tür, die auf das Dach führte waren zu erkennen. Obwohl ich den Weg zum Ausgang von meinen ständigen Besuchen hier oben kannte, fand ich ihn nicht.
Panisch stolperte ich hin und her, lief quer über das Dach, meine Arme Hilfe suchend, eine Wand, ein Geländer suchend, Halt suchend vor mir ausgestreckt, meine Finger so weit gespannt, dass sie schmerzten, meinen Blick wild umher werfend, dabei meine Augen weit aufreißend und versuchte verzweifelt einen Ausweg, nein, einfach nur irgendetwas zu finden. Meine Sichtweite wurde immer geringer, schon erkannte ich meine eigenen Hände nicht mehr, begann immer schneller zu laufen, wohl wissend, dass sich hier irgendwo der Abgrund befand, jener Abgrund, welchen ich inzwischen als ein besseres Schicksal empfand als diese graue Hölle. Doch egal wie sehr ich es probierte, wie schnell ich rannte, wie laut ich schrie oder wie hektisch ich um mich schlug: Es gab kein Entkommen.
Doch dann, nach einer halben Ewigkeit, schlug mein rechter Handrücken gegen kühlen, harten Stahl. Das Geländer! Erleichtert umklammerte ich die Stange so fest, dass meine Knöchel weiß herausragten. Zumindest glaubte ich, dass sie das taten, denn sehen konnte ich nach wie vor nichts.
Langsam bildeten sich Löcher in der mir zuvor noch undurchdringbar erscheinenden Nebelwand und seichte Sonnenstrahlen fielen durch sie hindurch. Sonnenstrahlen, die mich endlich erreicht hatten.
III. Sonne
Verwundert bemerkte ich, dass sich meine Fingernägel in meine Hand krallten - das Geländer, das mir bis eben noch Halt geboten hatte, war verschwunden! Ich atmete ein paar mal tief ein und aus und rieb mir meine Augen, als wäre ich gerade nach einem langen Schlaf aufgewacht. Als ich meine Hände wieder senkte, fiel mir auf, dass einer der Sonnenstrahlen genau auf mich gerichtet war. Tatsächlich war es nicht einfach nur irgendein Sonnenstrahl, denn an seinem Ende befand sich ein gleißend helles Licht, welches mich blendete. Das war es! Dieses Licht musste die Sonne sein! Aufgeregt sammelte ich mich und begann voran zu schreiten, immer weiter meinem Traum entgegen. Neben und hinter mir befand sich immer noch dichter Nebel, doch das war mir egal, ich kannte mein Ziel.
Ich war bestimmt schon zehn oder zwanzig Minuten gegangen, als der Weg immer steiler wurde. Mühsam kämpfte ich mich weiter vor, obwohl mich meine Kräfte langsam verließen. Mir stand der Schweiß auf der Stirn und meine Beine wackelten gefährlich, doch ich konnte nicht stehen bleiben. Nicht jetzt, wo ich so nah dran war. Das Licht wurde heller und heller, größer und größer und nahm schon bald mein gesamtes Sichtfeld ein. Schützend hielt ich mir meine Arme vors Gesicht, die Hitze war kaum noch auszuhalten. Welch Ironie, dachte ich, dass ich mich jetzt vor genau der Sache schützen musste, die ich mir seit Jahren herbeisehnte!
Ich lachte noch immer darüber, als ich einige Schritte weiter auf die Knie ging. Meine Energie war vollständig aufgebraucht, einzig mein Wille zwang mich dazu, weiter zu kriechen. Mit aller Kraft zog ich mich noch einmal voran und rollte mich dann erschöpft auf den Rücken. Ich war fast dort, nur noch wenige Meter trennten mich und mein Ziel, aber dennoch war es mir nicht möglich, mich auch nur eine Handbreit weiter zu bewegen. Etwas frustriert entschied ich mich dazu, eine kurze Pause einzulegen. Was sollte in der Zwischenzeit schon groß -
Ich hätte wütend auf dich sein sollen, erzürnt, aufgebracht, vielleicht sogar etwas gekränkt. Aber als du mir von oben lächelnd ins Gesicht blicktest, die gleißende Mittagssonne verdeckend, war ich einfach nur glücklich.
"Bist wohl mal wieder hier oben eingepennt, was?", fragtest du schmunzelnd. Ich ergriff deine Hand dankbar und stand auf. "Der Chef wäre außer sich, wenn er wüsste, wie oft er dich fürs Schlafen bezahlt!" Ich begann zu lachen. Ja, dachte ich, das wäre er wohl. Wir machten uns auf den Weg zur Tür, als du dich noch einmal umdrehtest und mir direkt in die Augen schautest.
"Hast du sie heute wenigstens gesehen? Deine Sonne?"
Ich erwiderte deinen Blick. Deine Augen strahlten heller als jemals zuvor. Unweigerlich musste ich grinsen.
Ja. Ja, das hatte ich.